Das Zwei-Massen-Modell für die Simulation von Kraftfahrzeugstößen
1972
Zitat
Plankensteiner, K.; Appel, H.: Das Zwei-Massen-Modell für die Simulation von Kraftfahrzeugstößen. VW-Forschungsbericht F1 72.23, 1972
Inhaltsangabe
Um bei der Entwicklung des Experimental Safety Vehicle (ESV) mit nur einem Crashversuch das Deformationsverhalten für alle Aufprallgeschwindigkeiten zwischen 0 km/h und der beim Versuch gewählten Geschwindigkeit ermitteln zu können, wurde bei VW 1972 die Durchführung und Auswertung nach dem Zwei-Massen-Modell experimentell untersucht. Dazu war es notwendig, die Deformationsenergie als Funktion des Verformungsweges aus den Messdaten zu berechnen und daraus die Äquivalente Wandaufprallgeschwindigkeit (EBS) als Funktion des Verformungsweges zu ermitteln. – Das EES-Verfahren ist sozusagen ein Nebenprodukt dieser Versuchsreihe.
Modellaufbau
Auf der Suche nach leichten Bauteilen mit hoher Energieaufnahme landete auch die in Abb. 1 dargestellte Wabenstruktur bei einem Crashversuch zwischen Hammer und Amboss. Die Energieaufnahme bei der Wabe erfolgt durch nacheinander gebildete Faltungen, während die hinter den Falten gelegenen Wabenteile nahezu unverformt geblieben sind. Der Vergleich mit dem in der Abb. 2 ersichtlichen Fahrzeug nach einem Crashversuch zeigt eine ähnliche Konzentration der Faltungen hinter dem Anstoßbereich und so lässt sich für das Fahrzeug (hinreichend genau) wie in Abb. 3 dargestellt ein Modell mit zwei zeitlich veränderlichen Massen formulieren. Wenn man dann noch die starre Wand durch eine fahrbare Barriere wie in Abb. 4 ersetzt, können durch zweifache Integration der Beschleunigungsmessdaten von Barriere und Fahrgastzelle als Differenz der Verformungsweg und für die veränderlichen Massen (analog zu den Raketengleichungen) die jeweilige Verformungskraft (entsprechend der Schubkraft einer Rakete) und damit letztendlich die Verformungsarbeit berechnet werden. Das Auswerteergebnis für einen der Versuche nach der Abb. 5 wurde bereits 1972 in einem Vortrag in Baden-Baden präsentiert und anschließend im Zentralblatt für Unfalluntersuchung (ZBU), Band 1, 1973, Nr.7/9, veröffentlicht.
Schlussfolgerungen für die Unfallrekonstruktion
Bei der Neukonstruktion eines Fahrzeuges kann mit dem Zwei-Massen-Modell unabhängig von späteren Ausstattungsvarianten schon frühzeitig die Grenze für das Fahrzeuggewicht ermittelt werden, bei dem die für die Typisierung erforderlichen Crashversuche erfolgreich verlaufen werden. Dazu muss man aber beim Versuch die Belastungsgrenze der Fahrgastzelle überschreiten und die Bilder von solchen Vor-Versuchen sind deshalb auch nicht für eine Veröffentlichung geeignet. Deshalb war es wohl eine Illusion davon zu träumen, mit solchen Crashversuchen für die Unfallrekonstruktion auch jene Informationen zu bekommen, welche für die Interpolation zwischen den Deformationen des Unfallfahrzeuges und den Deformationen der Versuchsfahrzeuge erforderlich gewesen wären. Die einzige bisher nach diesem Modell veröffentlichte Auswertung nach Abb. 5 lässt zwar auf einen in erster Näherung linear ansteigenden Verlauf der Äquivalenten Wandaufprallgeschwindigkeit in Abhängigkeit vom Deformationsweg schließen, doch ob dies auch noch für die heutigen Fahrzeugkonstruktionen mit immer mehr Kunststoffteilen gilt, ist mehr als fraglich.
Äquivalente Wandaufprallgeschwindigkeit (EBS)
Der in Abb. 5 dargestellte Verlauf der Deformationsenergieaufnahme während des Crashversuches berücksichtigt natürlich noch nicht die teilelastischen Rückverformungen, die bei einer entsprechend kleineren Anprallgeschwindigkeit eingetreten wären. Schon aus diesem Grunde kann für die Interpolation nur die Energieaufnahme bis zum Ende der ersten Stoßperiode angegeben werden. Um für jede Anprallgeschwindigkeit auch die Rückverformungen zu ermitteln müsste man für jede Zwischengeschwindigkeit einen eigenen Crashversuch durchführen und selbst dann ergäbe sich noch ein messtechnisches Problem. Während die Geschwindigkeiten vor dem Anprall mit einer Lichtschranke relativ einfach und genau ermittelt werden können, muss die Rückstoßgeschwindigkeit über die Integration der Verzögerungen des Schwerpunktes errechnet werden, doch die Lage des Fahrzeugschwerpunktes ist variabel! - Es macht daher auch keinen Sinn die EES als die nach dem Stoß verbleibende Verformungsarbeit zu definieren, wie dies viele Autoren nach 1980 getan haben, denn dafür gibt es keine und wird es auch in Zukunft keine brauchbaren Versuchsergebnisse geben, die eine hinreichend genaue Interpolation erlauben. Siehe auch die Anmerkung zu »EES - Ein Hilfsmittel zur Unfallrekonstruktion und dessen Auswirkungen auf die Unfallforschung«.
Rück- und Ausblick
In den fast 35 Jahren, die seit dieser Versuchsreihe vergangen sind, haben sich auch die Möglichkeiten für die Analyse von Crashversuchen erheblich verändert. Die punktuellen Beschleunigungsmessungen an Karosserieteilen wurden durch Schwingungen verfälscht und eine Auswertung nach dem Zwei-Massen-Modell blieb auch auf die zentralen Stoßformen ohne (wesentliche) Drehungen nach dem Stoß beschränkt. Dafür gibt es aber in Zukunft die Möglichkeit, die mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgenommenen Filme der Crashversuche mit einer Video-Crash-Slow-Motion (fotogrammetrisch) auszuwerten und damit könnte die für die Unfallrekonstruktion noch immer recht lückenhafte Dokumentation brauchbarer Crashversuche aufgefüllt werden. Erste Beispiele für eine derartige Crash-Slow-Motion wurde bei der Analyse von überlappenden Mehrfachstößen und zur Rekonstruktion von Massenunfällen bereits erfolgreich erprobt. - Vielleicht findet sich in Zukunft ein junger Forscher, der dieses Erfolg versprechende Verfahren, das ich nach meinem 2005 begonnenem Ruhestand nicht mehr weiter verfolgen kann, durch eine praktikablere Software auch einem größeren Anwenderkreis zugänglich macht.
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