EES - Ein Hilfsmittel zur Unfallrekonstruktion und dessen Auswirkungen auf die Unfallforschung

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1980, pp. 75 – 78 (#4)
1980, pp. 105 – 108 (#5)
1980, pp. 133 – 138 (#6)

In der vorliegenden Arbeit wird in Teil 1 ein neues Hilfsmittel zur Unfallrekonstruktion vorgestellt. Der Begriff EES wird definiert und zur allgemeinen Verwendung vorgeschlagen.
In Teil 2 werden anhand eines realen Unfalls die Auswirkungen aus den Erkenntnissen des beschriebenen Rekonstruktionsverfahrens auf die Verletzungsursachenforschung diskutiert. Die Praktikabilität des Verfahrens wird im letzten Teil gezeigt. Dazu werden verschiedene Fallbeispiele vorgestellt und diskutiert.
Teil 1

  1. Einleitung
  2. Definition der EES
  3. Berechnungsverfahren mit Hilfe der EES


Zitat

Burg, H.; Zeidler, F.: EES - Ein Hilfsmittel zur Unfallrekonstruktion und dessen Auswirkungen auf die Unfallforschung. Der Verkehrsunfall 18 (1980), pp. 75 – 78 (#4) & pp. 105 – 108 (#5) & pp. 133 – 138 (#6)

Inhaltsangabe

Mit der Einführung des Begriffes Energy-Equivalent Speed (EES) ist den beiden Autoren der Durchbruch für das nunmehr mit diesen drei Buchstaben bezeichnete Rekonstruktionsverfahren gelungen. Leider hat gleichzeitig die unscharfe Definition des EES in diesem Beitrag zur Entstehung von Problemen beigetragen, die es vorher nicht gegeben hat.

Zur (Vor-) Geschichte des EES-Verfahrens

Als man etwa um 1970 in den USA von einem PKW träumte, bei dem die Insassen auch einen Wandaufprall mit 50 mph (ca. 80 km/h) überleben könnten, begannen bei den großen Automobilherstellern intensive Forschungen über den Fahrzeugstoß für das Experimental Safety Vehicle (ESV). Doch wenn an vielen Orten gleichzeitig an der selben Sache geforscht wird ist es im Nachhinein nur schwer feststellbar, wer wann als erster die entscheidende Idee gehabt hatte, die unvorstellbar großen Zahlen in Newtonmeter für die Deformationsenergie durch die Äquivalente Wandaufprallgeschwindigkeit zu substituieren. Bei einem 1984 von Zeidler in Köln gehaltenen Vortrag über Die Bedeutung der Formänderungsenergie für die Unfallforschung und das EES-Unfallrekonstruktionsverfahren wird Mackay von der University of Birmingham mit einer Veröffentlichung von 1968 als Urheber des Begriffes Equivalence Barrier Speed (EBS) genannt.

Während Zeidler 1978 in einem im VuF abgedruckten Vortrag noch versuchte das Deformationsverhalten von Kfz bei Aufprallversuchen unter praxisgerechten Versuchsbedingungen über die Äquivalente Testgeschwindigkeit (ETS) bei der Stoßrekonstruktion einzusetzen, hatte u.a. Plankensteiner 1979 in den mathematischen Grundlagen für die Programmierung von Taschenrechnern zur Unfallrekonstruktion zu der in seiner Dissertation definierten Äquivalenten Wandaufprallgeschwindigkeit (=EBS) ergänzende Vorschläge zur Berechnung derselben aus den (damals) zur Verfügung stehenden Veröffentlichungen über Crashversuche gemacht.

Nach der von Burg und Zeidler vorgenommenen Definition der EES handelt es sich um eine Geschwindigkeitsangabe, die stellvertretend für die am Fahrzeug verrichtete Verformungsarbeit steht. Doch ist dies die (von den Deformationsstrukturen weitgehend unabhängige) bis zum Ende der ersten Stoßperiode umgewandelte Stoßenergie (wie beim EBS) oder die nach der teilelastischen Rückverformung am Ende der zweiten Stoßperiode verbleibende Energie? Obwohl das angeführte Beispiel den Schluss zulässt, dass die beim EBS verwendete Definition gemeint war, haben spätere Autoren (z.B. "Das ± Problem des EES-Verfahrens" oder "Zusammenhang zwischen EES und Geschwindigkeitsänderung von Unfallfahrzeugen unter Berücksichtigung des k-Faktors und der Deformationstiefen ohne Abgleiten") dies offenkundig nicht so verstanden.

Ohne verwertbare Angaben aus Crashversuchen ist das EES-Verfahren nur graue Theorie, deshalb regte Zeidler an mit praxisgerechten Crashversuchen vermehrte Angaben zu beschaffen, Schaper wollte mit einem Energieraster für alle Fahrzeugtypen dieses Ziel erreichen und Plankensteiner schlug für die Interpolation zwischen den einzelnen Crashversuchen deren Auswertung nach dem Zwei-Massen-Modell vor. So verschieden die vorgeschlagenen Wege auch waren, sie verfolgten das gleiche Ziel und sind doch allesamt ein unerfüllter Wunschtraum geblieben.

Darüber hinaus war den drei Autoren noch gemeinsam, dass sie Zugang zu den damaligen "Großrechenanlagen" bei den Automobilherstellern hatten, Zeidler bei Daimler Benz, Schaper bei Opel und Plankensteiner bei VW. Nachdem den meist freiberuflich tätigen Unfallanalytikern zu dieser Zeit gerade erst die programmierbaren Taschenrechner und kurze Zeit später die ersten PC zur Verfügung standen, wurden zunächst grafische Lösungsverfahren (z.B. von Schimmelpfennig und Co-Autoren) vorgeschlagen. Bei den dazu notwendigen Umformungen der Stoßgleichungen dürfte es dann passiert sein: aus der ursprünglich für die Verformungsarbeit am Ende der ersten Stoßperiode definierten EES wurde unter Berücksichtigung der Stoßzahlen die verbleibende Deformationsenergie nach dem Gesamtstoß. Am besten lässt sich dies an den zwei Veröffentlichungen von Plank rekonstruieren. 1985 entsprach die EES für den plastischen Stoß dem EBS, während die Gleichungen 2002 um die Stoßzahl erweitert von der zweiten Definition ausgehen.

Heute ist das EES-Verfahren fester Bestandteil der meisten Computerprogramme, doch ob deren Benutzer auch immer über die dabei verwendete Definition der EES auch richtig informiert werden, ist mehr als fraglich, auch wenn dies nach dem in der nachfolgenden Anmerkung festgehaltenen Rechenbeispiel kaum praktische Auswirkungen haben dürfte. Gravierender erscheint hier schon das Modellproblem, denn das Modell des ebenen Scheibenstoßes zweier Stoßpartner bei vernachlässigbaren Reifenkräften während der Stoßdauer mit einem in Relation zu den Fahrzeugen unverrückbaren Stoßpunkt, das den Berechnungen zu Grunde liegt, kann nicht bei allen Unfällen uneingeschränkt angewendet werden.

Anmerkung

Aus einem Crashversuch zentrisch gegen eine starre Wand mit 50 km/h erhält man für das Gewicht des Versuchsfahrzeuges EBS = 50 km/h, egal wie stark die Rückverformung nach der ersten Stoßperiode auch gewesen sein mag. Wenn man hingegen als EES nur die kleinere verbleibende Deformationsenergie am Ende der zweiten Stoßperiode definiert, dann benötigt man für die Anwendung bei der Stoßrekonstruktion zusätzlich noch eine Angabe über die Stoßzahl. Während das (seinerzeit) selten angegebene Fahrzeuggewicht noch einigermaßen abschätzbar ist, bei der Stoßzahl ist dies schon schwieriger. Bei einer Stoßzahl von beispielsweise +0,3 würde dann im obigen Beispiel die EES = 47,7 km/h betragen, die Differenz zur EBS ist also verglichen mit den anderen Schätzungenauigkeiten eher gering, weshalb die unterschiedlichen Definitionen quantitativ kaum eine Auswirkung haben. Lediglich der mathematische Aufwand bei der Unfallrekonstruktion ist bei der zweiten denkmöglichen Definition ganz erheblich größer !!! Wenn aber die Bilder von einem Crashversuch hinsichtlich der Deformationen mit jenen eines Unfallfahrzeuges wirklich vergleichbar sind, dann kann man unter Bedachtnahme auf die sonstige Schätzgenauigkeit durchaus von einer gleichartigen Rückverformung ausgehen und mit dem EBS für die Deformationsenergie am Ende der ersten Stoßperiode rechnen. (Plankensteiner)

Kommentar

Beispiel für die Nichtanwendbarkeit des EES-Verfahrens

In dem ebenfalls 1978 in Köln von Slibar gehaltenen Vortrag "Aussagewert und Schranken der Kollisionsrückanalyse nach Indizienstand" wurde das Bild eines total beschädigten Fahrzeugs auf die Leinwand projiziert (das etwa so ausgesehen hat wie das neben abgebildete) und dazu sinngemäß die rhetorische Frage gestellt, ob es bei solchen umfangreichen Deformationen nicht gutachterlich geradezu verwegen erscheint das Angriffszentrum der Stoßantriebsgröße für das ebene Stoßmodell anzugeben, wie dies ja bei der Berechnung der EES erforderlich ist. – Trotz (oder vielleicht sogar wegen?) dieses prominenten Gegenwindes hat sich das EES-Verfahren seinen Platz bei der Unfallanalyse nach dem vorliegenden Aufsatz erobert, auch wenn die unscharfe Definition der EES in der Folgezeit zu einer Flut von unnotwendig komplizierten Lösungsvorschlägen geführt hat.

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