Analyse von Serienkollisionen und Berechnungen der Insassenbeschleunigung im gestoßenen Fahrzeug

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1994, p. 253 (#9), Teil 1
1995, p. 269 (#10), Teil 2

Zitat

Gratzer, W.; Burg, H.: Analyse von Serienkollisionen und Berechnungen der Insassenbeschleunigung im gestoßenen Fahrzeug.
Teil 1: Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 32 (1994), pp. 253 – 256 (#9)
Teil 2: Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 33 (1995), pp. 269 – 272 (#10)

Inhaltsangabe

Im ersten Teil der Veröffentlichung geht es darum, wie man beim Vorliegen von Reifenkräften die Differenzgeschwindigkeit (effektive Kollisionsgeschwindigkeit Δv) aus Deformationsarbeit und Reifenkräften berechnen kann. Im zweiten Teil geht es dann um die Frage, welcher Zusammenhang zwischen der Fahrzeugbeschleunigung und der Insassenbeschleunigung besteht. Dazu wird aus der Oberkörpermasse des Insassen und der Steifigkeit der Sitzlehne ein Zwei-Massen-System gebildet.

Teil 1

Die Autoren den externen Kraftstoß K sozusagen als Störterm in Impuls- und Energiesatz ein:

(1)..... [math]\displaystyle{ m_1 v_1 + m_2 v_2 - m_1 v_1' - m_2 v_2'\,\,\,= K_r }[/math]

(2)..... [math]\displaystyle{ m_1 v_1^2 + m_2 v_2^2 - m_1 v_1'^2 - m_2 v_2'^2 = 2 (E_{def} + W_r) }[/math]

Die weiteren Berechnung sind sehr undurchsichtig; im Prinzip wird schnell das (sehr komplex wirkende) Ergebnis verkündet. Dieses erweitert die gewohnte Beziehung

[math]\displaystyle{ \Delta v^2 = \Delta v'^2 + \frac{2 \Delta E_{def}}{m^*} }[/math]

mit

[math]\displaystyle{ m^* = \frac {m_1 m_2}{m_1 + m_2} }[/math]

auf eine ähnliche Beziehung zwischen Δv und Δv', die etliche zusätzliche Terme enthält. Dies Terme stammen zum Teil aus der Modellierung des Fahrzeug-Fahrzeug-Systems als Zweimassenschwinger.

Kommentar

Die Lösung enthält keine Absolutgeschwindigkeiten mehr und kann deshalb nicht richtig sein:
Da das Fahrzeug-Fahrzeug-System über die Reibung an das erdfeste System angebunden ist, kann die Lösung unmöglich unabhängig von der Geschwindigkeit im erdfesten System sein, denn je größer das Geschwindigkeitsniveau (im erdfesten System), auf dem sich die Kollision zuträgt, umso größer ist auch der reibungsbedingte Energieabfluss an das Erdsystem.

Neue Herleitung

Im Folgenden eine etwas strukturiertere Darstellung des Lösungswegs.

Standardfall ohne Kraftstoß

Dazu sollte man zunächst rekapitulieren, wie man ohne diese Störterme den Zusammenhang zwischen Edef, Δv' und Δv herleitet: In diesem Fall setzt man die Erhaltungsgleichungen im Schwerpunktsystem an, also in dem Inertialsystem, dass sich mit der (gleichmäßigen) Geschwindigkeit des Schwerpunkts bewegt. Die Geschwindigkeiten im Schwerpunktsystem bezeichnen wir im Folgenden mit u statt v. Es gilt also

(3)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1 + m_2 u_2 - m_1 u_1' - m_2 u_2' \,\,= 0 }[/math]

(4)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1^2 + m_2 u_2^2 - m_1 u_1'^2 - m_2 u_2'^2 = 2 E_{\text{def}} }[/math]

(Die Störterme werden, wie angekündigt hier zunächst vernachlässigt.) Im Schwerpunktsystem gilt

(5)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1 = -m_2 u_2 = m^* \Delta u \,= {m^*} \Delta v }[/math]

(Die Differenz zwischen zwei Geschwindigkeiten ist selbstverständlich unabhängig vom Koordinatensystem.) Wir setzen nun die Beziehung (5) in den Energiesatz (4) ein:

(6)..... [math]\displaystyle{ {m^*} \Delta v (u_1 - u_2) - m^* \Delta v' (u_1' - u_2') \,= 2 E_{\text{def}} }[/math]

woraus sofort

(7)..... [math]\displaystyle{ \Delta v^2 = \Delta v'^2 + \frac {2 E_{\text{def}}}{m^*} }[/math]

folgt.

Berücksichtigung des Kraftstoßes

Was ändert sich für den Fall, dass die Störterme eingeführt werden? Gl.(5) ist weiterhin gültig, denn sie folgt rein analytisch aus der Koordinatentransformation. Allerdings ist jetzt die Schwerpunktgeschwindigkeit des Gesamtsystems keine Konstante mehr, sondern es gilt

(8)..... [math]\displaystyle{ (v_s - v_s') = \Delta v_s = \frac {K_r}{m_1 + m_2} }[/math]

Man kann also im Energiesatz nicht so einfach wie in Gl.(4) die Schwerpunktgeschwindigkeiten vor und nach dem Stoß verwenden, sondern muss Δvs berücksichtigen:

(9)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1^2 + m_2 u_2^2 - m_1 (u_1' + \Delta v_s)^2 - m_2 (u_2'+ \Delta v_s)^2 = 2 (E_{def} + W_r) }[/math]

Ausmultiplizieren ergibt

(10)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1^2 + m_2 u_2^2 - m_1 u_1'^2 - m_2 u_2' - 2(m_1 u_1' + m_2 u_2') \Delta v_s - (m_1+m_2) \Delta v_s^2 = 2 (E_{def} + W_r) }[/math]

Im Schwerpunktsystem gilt gemäß Gl.(5)

(11)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1' + m_2 u_2'\, = 0 }[/math]

sowie

(12)..... [math]\displaystyle{ m_1 u_1^2 + m_2 u_2^2\, = m^* \Delta v^2 }[/math]

und analog für die Geschwindigkeiten nach dem Stoß.

Der Term Δvs lässt sich über Gl. (8) ersetzen. Zusammen mit Gln. (11) und (12) vereinfacht sich Gl. (10) damit zu

(13)..... [math]\displaystyle{ \Delta v^2 = \Delta v'^2 + \frac {2 (E_{def} + W_r) + \frac{K_r^2}{m_1+m_2}}{m^*} }[/math]

Damit ist man schon nahe bei der im Aufsatz präsentierten Lösung. Der Kraftstoß Ks und die Reibarbeit Wr sind noch über die Abbremsungen a1 und a2 und die Kollisionszeit T zu berechnen

(14)..... [math]\displaystyle{ K_r\,= (m_1 a_1 + m_2 a_2) \, T }[/math]

(15)..... [math]\displaystyle{ W_r= \tfrac12 [m_1 a_1 (v_1 + v_1')+ m_2 a_2 (v_2 + v_2')] \, T }[/math]

Finale

Mit der letzten Gleichung haben sich sämtliche zuvor mühsam eliminierten Geschwindigkeiten komplett wieder eingefunden. Mittels Gl.(5) lässt sie sich auf

(16)..... [math]\displaystyle{ W_{\text r} \,=\tfrac12 [(a_1 m_1 - a_2 m_2)(\Delta v + \Delta v') + (a_1 m_1 + a_2 m_2) (v_s + v_s')] T }[/math]

transformieren. Die während des Stoßes geleistete Reibarbeit lässt sich in zwei Terme spalten, nämlich einen, der über die Schwerpunkte des Systems das absolute Geschwindigkeitsniveau beinhaltet und einen, der die Relativgeschwindigkeiten vor und nach dem Stoß beinhaltet.

Die Berechnung der Kollisionsgeschwindigkeit v1 ist möglich, wenn v2 gegeben ist (speziell z.B. dann, wenn Fahrzeug 2 steht). In diesem Fall ist vs eine Funktion von v1 und v's lässt sich über den Kraftstoß aus vs berechnen.

Teil 2

In Gl. (1) muss es auf der linken Seite f1 heißen, sonst ergibt die Gleichung keinen Sinn:

[math]\displaystyle{ f_1 = \frac {C_2} {C_1 (SH +SD)} f_2 }[/math]

oder:

[math]\displaystyle{ f_i \,C_i = \text{konst.} }[/math]

Achtung: Die Größe C1 bezeichnet in der Veröffentlichung einen relativen (prozentualen) Wert, während C2 offenbar einen absoluten Abstand bezeichnet.

In Gl. (2) muss es:

[math]\displaystyle{ m_1 \,\ddot x_1 = f_1 \Delta x_1 + m_2 \,\ddot x_2 }[/math]

[math]\displaystyle{ m_2 \,\ddot x_2 = f_1 \Delta x_2 + \tau \,\Delta\dot x_2 }[/math]

heißen, denn auch bei der Dämpfung kommt es – analog zur Federkraft – auf die Relativkoordinate (Relativgeschwindigkeit) an, nicht auf den Anbsolutwert.

Dass die Schwingunggleichung keine geschlossene Lösung hat, wie im Text postuliert, ist so nicht richtig: Selbstverständlich gibt es für die Bewegungen des Zweimassenschwingers für bestimmte Randbedingungen geschlossene Lösungen.

Der Hauptgrund für die numerische Lösung besteht eher darin, dass die Federsteifigkeit gemäß Bild 4 nicht konstant ist, sonder durch eine Polylinie beschrieben wird. Vermutlich wird auch die durch den Stoß eingeprägte Deformation Δx1(t) nicht analytisch beschrieben, sondern stammt aus der Lösung für das Fahrzeug-Fahrzeug-System.

Erratum

In VKU 11/1994, p. 312 wird darauf hingewiesen, dass in der Tabelle auf S. 255 links unten die Beschriftung falsch ist. Statt Δv'1 und Δv'2 soll es Δv1 und Δv2 heißen.

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