ECE-R 111
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Kippsicherheit von Tankfahrzeugen
Uniform provisions concerning the approval of tank vehicles of categories N and O with regard to rollover stability
Gesetzeslage
Nach den Bestimmungen des ADR müssen sämtliche Tankfahrzeuge, die nach dem 01.07.2003 erstmals zugelassen werden, die Bestimmungen der ECE-R 111 erfüllen. Nach multilateraler Vereinbarung Nr. 145 wurde der Nachweis der Kippstabilität nach ECE-R 111 in etlichen europäischen Ländern bis 30.06.2004 ausgesetzt, nicht jedoch in Deutschland. Der Nachweis der Kippstabilität ist damit Bestandteil der RSE. Eine "Erstzulassung" ist übrigens auch dann erforderlich, wenn ein alter Tank auf ein neues Fahrgestell montiert wird.
Gemäß ECE-R 111 ist der Nachweis zu führen, dass das voll beladene (!) Tankfahrzeug bei einer Querbeschleunigung von 4 m/s², respektive einem Kippwinkel von 23° nicht umkippt. Wobei eigentlich: arctan(4,0/9,81) = 22,2°. Mit den geforderten 23° ist man also auf der sicheren Seite. Der Nachweis kann rechnerisch oder experimentell, auf einem Kipptisch (tilt table) geführt werden. In Deutschland wird der Nachweis bevorzugt rechnerisch geführt, da Kipptische rar und die Versuche teuer sind. Beim grenzüberschreitenden Verkehr werden in neueren ADR-Staaten (z.B. Polen) angeblich alle (deutschen) Tankfahrzeuge nach ECE-R 111 durch die dortigen Behörden auf eine Kippbrücke gestellt, um die Kippsicherheit zu prüfen: man traut augescheinlich dort den durchgeführten Berechnungen und Bescheingungen nicht. Gerüchten zufolge sei aber auch dort noch nie ein (deutsches) Tankfahrzeug mit Bestätigung gem. ECE-R 111 umgekippt. Auch dies spricht für die Praxistauglichkeit der Berechnung der Kippsicherheit.
"Voll beladen" ist übrigens nicht immer mit der in den Fahrzeugpapieren angegebenen zulässigen Gesamtmasse gleichzusetzen. Gibt der Fahrzeughersteller selbst eine höhere technisch zulässige Gesamtmasse an, so ist diese bei der Berechnung zu Grunde zu legen.
Die Rechenvorgänge beim rechnerischen Nachweis sind in der ECE-R 111 bis ins Detail vorgeschrieben. Im Prinzip liegt der Berechnung ein gefedertes Vierradmodell zugrunde, das über die ebenfalls federnden Räder einer Seite kippt. Dieses Modell wird auch auf den Sattelauflieger angewendet, obwohl dessen Kippachsen bekanntlich schräg im Raum verlaufen. In diesem Fall wird das Stützmoment der Sattelkupplung in das äquivalente Stützmoment einer stattdessen montierten Achse umgerechnet.
Für die Berechnung sind etliche Konstruktionsdaten erforderlich, so etwa
- Spurbreite
- Gesamtmasse
- ungefederte Masse
- Schwerpunkthöhe der gefederten Massen
- Schwerpunkthöhe der ungefederten Massen
- Höhe der Rollachse
- Reifenfederhärte
- Federhärte der Aufbaufedern
Diese Daten müssen
- bei Fahrgestellen vom Fahrzeughersteller
- bei Sattelaufliegern und Anhängern vom Achsenhersteller (!)
zur Verfügung gestellt werden, ggf. ergänzt von Daten des Aufbauherstellers. Die Berechnung ist durch einen amtlich anerkanten Sachverständigen ( aaS/aaSmT) zu überprüfen, was sich allerdings auf die Kontrolle der nackten Berechnung beschränken wird. Die der Berechnung zugrundeliegenden Herstellerangaben kann der aaS allenfalls betreffend die Größenordnung überprüfen.
Das Berechnungsverfahren
Das Berechnungsverfahren ist für Tankfahrzeuge, Tankanhänger und Tankauflieger dasselbe. Beim Auflieger wird die Sattelkupplung sozusagen durch eine fiktive Achse ersetzt. Bei der Berechnung wird so getan als ob der Auflieger, gestützt u.a. auf diese fiktive Achse, über die Räder einer Seite kippen würde.
Die Variablenbezeichnungen der ECE-R 111 sind etwas seltsam, so wird etwa die Achslast, also die Summe der Radaufstandskräfte, mit A bezeichnet. Wir verwenden deshalb im Folgenden eine (hoffentlich) etwas weniger gewöhnungsbedürftige Nomenklatur. Die ECE-R 111 drückt sämtliche Formeln mit den Achslasten aus, sodass auch wir im letzten Schritt auf diese Nomenklatur umstellen. In der Herleitung selbst greifen wir jedoch auf die etwas gewohnteren Massen zurück.
Die Abfolge der Formeln weicht im Folgenden deutlich von derjenigen der ECE-R 111 ab, weil wir uns hier stärker an der für die Herleitung notwendigen Abfolge orientieren.
Auf die in der ECE-R 111 ebenfalls genannten Summenformeln verzichten wir hier. Es ist unmittelbar einsichtig, dass
- das Gesamtgewicht die Summe der Achslasten ist
- die Wanksteifigkeit des Gesamten Fahrzeugs die Summe der Federkonstanten der einzelnen Achsen ist
- sich die mittlere Spurbreite am besten als mit der jeweiligen Achslast gewichteter Mittelwert berechnet.
Rollsteifigkeit
Zunächst wird die Rollsteifigkeit des Fahrzeugs berechnet. Dabei werden die Rollsteifigkeit des Aufbaus ca und die durch die vertikale Reifenfederhärte bewirkte Rollsteifigkeit cr zu einer Gesamtrollsteifigkeit c zusammengefasst. Die Federn sind in Reihe geschaltet, sodass gilt
1...... [math]\displaystyle{ \frac1 c = \frac1 {c_r} + \frac1 {c_a} }[/math]
und damit
2...... [math]\displaystyle{ c = \frac {c_r c_a} {c_r + c_a} }[/math]
Über vertikale Reifenfederhärte f und Spurweite t lässt sich die Rollsteifigkeit der Achsen berechen
3...... [math]\displaystyle{ c_r = \frac12 f t^2 }[/math]
Die Rollsteifigkeiten von Achse (ungefederte Masse) und Aufbau (gefederte Masse) beziehen sich auf verschiedene Wankzentren: Während das Wankzentrum der ungefederten Massen auf Fahrbahniveau liegt, befindet sich das Wankzentrum der gefederten Massen in Höhe h. Um sie also gemäß Gl. (2) miteinander verrechnen zu können, muss man sie auf das gleiche Drehzentrum umrechnen. Die ECE-R 111 sieht vor, die Rollsteifigkeit c'a des Aufbaus (mit Schwerpunkthöhe H) auf Fahrbahnniveau umzurechnen
4...... [math]\displaystyle{ c_a = \left( \frac H {H - h} \right)^2 c_a' }[/math]
Die quadratische Steigerung der Drehsteifigkeit gemäß Gl. (4) ergibt sich daraus, dass
- der Wankwinkel entsprechend kleiner wird
- der Hebelarm der Trägheitskräfte entsprechen wächst.
Damit ist die (Gesamt-) Rollsteifigkeit c nunmehr berechnet. Sie wird üblicherweise in Nm/rad angegeben. Sind die Achsen nicht baugleich, so ist diese Berechnung jeweils für die einzelnen Achstypen durchzuführen. Die Achsen werden dann durchnummeriert (Index i) und die einzelnen Rollsteifigkeiten ci berechnet.
Bei Fahrzeugen mit Doppelreifen ist – nicht nur bei der Berechung der Rollsteifigkeit der Achse – zunächst eine äquivalente Spurbreite t aus Normspurbreite T' und Mittenabstand der Doppelräder t zu berechen
5...... [math]\displaystyle{ T = \sqrt {T'^2+t^2} }[/math]
Diese Spurbreite verbindet etwa die Innenseiten der äußeren Räder und entspricht experimentellen Untersuchungen zufolge etwa der Kippachse eines Doppelreifenfahrzeugs.
Bei Tankaufliegern berechnet sich die äquivalente Drehsteifigkeit ck des Königszapfens (king pin) aus der Auflagekraft Fk gemäß
6...... [math]\displaystyle{ c_k = 4 \frac m {rad} F_k }[/math]
Diese Berechnungsweise ist in der ECE-R 111 fest vorgegeben. Der Beitrag der Sattelkupplung zur Rollsteifigkeit beträgt ohnehin nur etwa 15%, sodass diese Überschlagsrechung offenbar ausreichend ist. Die äquivalente Spurweite Tk der Sattelkupplung ist schlicht der Mittelwert der Spurweiten der übrigen Anhängerachsen. Sind diese, wie häufig, identisch, so ergibt sich auch für die äquivalente Spurweite der Sattelkupplung genau dieser Wert.
Wankwinkel beim Abheben der Achse(n)
Sind alle Achsen baugleich, so heben sämtliche Räder der Kurveninneren Seite gemeinsam von der Fahrbahn ab. Das durch den Wankwinkel θ verursachte Moment ist dann genau so groß, dass das Gewicht G nur auf den kurvenäußeren Rädern liegt, die kurveninneren Räder also um G/2 entlastet werden. Das Fahrzeug befindet sich also an der Kippgrenze
7...... [math]\displaystyle{ M = c \theta = \frac12 G T }[/math]
Aus dieser Bedingung lässt sich demnach der zugehörige Wankwinkel θ berechen, ohne dass das Moment bzw. die Größe der es verursachenden Querbeschleunigung bekannt ist
8...... [math]\displaystyle{ \theta = \frac {G T} {2 c} }[/math]
Sind die Achsen nicht baugleich, so heben die Achsen bei verschiedenem Winkel ab, der für jeden Achstyp gesondert berechnet werden muss. Nummeriert man die Achsen mit dem Index i, so ergibt sich, abhängig von Achlast Fi und Drehfederhärte ci also
9...... [math]\displaystyle{ \theta_i = \frac {F_i T} {2 c_i} }[/math]
Die Achse, bei der sich der kleinste Winkel errechnet, hebt als erste von der Fahrbahn ab.
Querbeschleunigung beim Kippen
Beim Starrköpermodell kippt das Fahrzeug, wenn die Resultierende aus Quer- und Erdbeschleunigung die Kippachse überquert.
10..... [math]\displaystyle{ \frac {m a_q} {m g} = \frac H { \frac{1}{2}T} }[/math]
In der ECE-R 111 wird auf die Querbeschleunigung in g, also das Verhältnis q = aq/g abgestimmt. Damit gilt
11..... [math]\displaystyle{ q = \frac H { \frac{1}{2}T} }[/math]
Wankt das Fahrzeug um den Winkel θ, so lautet die Gleichgewichtsbedingung
12..... [math]\displaystyle{ \frac12 m g T = m a_q H + m_s g H_s \,sin \theta }[/math]
mit ms als gefederter Masse (sprung mass). Division durch g und sinθ ≈ θ ergibt
13..... [math]\displaystyle{ \frac12 m T = m q H + m_s H_s \theta }[/math]
Der Winkel θ ergibt sich aus Wanksteifigkeit und Querbeschleunigung
14..... [math]\displaystyle{ c \theta = M = m_s a_q H_s + m g H \theta }[/math]
Da anfangs ja die Drehsteifigkeiten von Aufbau und Reifen miteinander verrechnet wurden, drehen auch die ungefederten Massen mit dem Winkel θ um das Wankzentrum, sodass beim Beitrag der Gewichtskraft zum Verdrehwinkel auch diese Massen zu berücksichtigen sind.
Anmerkung:
An dieser Stelle legt die ECE-R 111 offenbar den Ansatz
14a..... [math]\displaystyle{ c \theta = M = m_s a_q H_s + m g H_s \theta }[/math]
zugrunde, der die Gesamtmasse m mit der (größeren) Schwerpunkthöhe der gefederten Massen Hs paart. Warum sie so verfährt, ist nicht ersichtlich. Das Ergebnis dieses Ansatz ergibt in jedem Fall einen größeren Wankwinkel und setzt die Kippsicherheit herab, man ist damit also auf der sicheren Seite.
Wir rechnen jedoch zunächst mit unserem Ansatz weiter:
15..... [math]\displaystyle{ (c - m g H) \theta = m_s a_q H_s }[/math]
uns schließlich
16..... [math]\displaystyle{ \theta = \frac {m_s g H_s} {c - m g H} }[/math]
Einsetzen in Gl.(13) ergibt
17..... [math]\displaystyle{ \frac12 m T = m q H + m_s H_s \frac {m_s g H_s} {c - m g H} q }[/math]
Auflösen nach q ergibt
18..... [math]\displaystyle{ q = \frac12 \frac {m T} {m H + g (m_s H_s)^2 / (c - m g H)} }[/math]
Erweitern mit g ergibt
19..... [math]\displaystyle{ q = \frac12 \frac {F T} {F H + (F_s H_s)^2 / (c - F H)} }[/math]
Führt man die Korrektur Gl. (14a) ein, ergibt sich übereinstimmend mit der ECE-R 111
19a..... [math]\displaystyle{ q = \frac12 \frac {F T} {F H + (F_s H_s)^2 / (c - F H_s)} }[/math]
Pseudo-Kippwinkel der "schwächsten" Achse
Haben die Fahrzeugachsen unterschiedliche Achslasten und Federsteifigkeiten, so heben sie nacheinander von der Fahrbahn ab. Wie oben bereits dargelegt, hebt die relativ steifste Achse als erste ab. Mit dieser Achse ist gemäß ECE-R 111 eine Pseudo-Querbeschleunigung zu berechnen. Zunächst ist der Verhältniswert ξ zwischen der Wanksteifigkeit cm dieser Achse (Index m für maximum) und der Wanksteifikeit c des gesamten Fahrzeugs zu berechnen
20..... [math]\displaystyle{ \xi = \frac {c_m} c }[/math]
Mit diesem Faktor wird, analog zu Gl.(19a) die Querbeschleunigung qm beim Abheben der ersten Achse berechnet
21..... [math]\displaystyle{ q_m = \frac12 \, \frac {F T} {\xi F H + (\xi F_s H_s)^2 / (c_m - \xi F H_s)} }[/math]
So steht es, mit etwas anderer Nomenklatur, in der ECE-R 111. Mann könnte allerdings auch ausklammern
22..... [math]\displaystyle{ q_m = \frac1 {2 \xi} \, \frac {F T} {F H + (F_s H_s)^2 / (c - F H_s)} = \frac q \xi }[/math]
was die Zusammenhänge etwas übersichtlicher gestalten würde.
Maßgebliche Querbeschleunigung für den Nachweis
Nachdem nun die Querbeschleunigung qm beim Abheben der ersten Achse und die Querbschleunigung q beim Kippen des Gesamtfahrzeugs berechnet sind, soll zwischen diesen beiden Werten interpoliert werden
23..... [math]\displaystyle{ q' = q - (q - q_m) \frac {F_m} G }[/math]
Auch hier könnte man sich alle Zwischenschritte sparen und gleich
24..... [math]\displaystyle{ q' = \left( 1 - \frac {\xi - 1} \xi \, \frac {F_m} G \right) q }[/math]
rechnen.
In jedem Fall ist q' die für den rechnerischen Nachweis entscheidende Querbeschleunigung und es muss q' > sin(23°) gelten.
Rechenblätter für den Nachweis der Kippstabilität
Die Rechenblätter zum Nachweis der Kippstabilität gemäß ECE-R 111 werden im Regelfall via Internet zur Verfügung gestellt, so etwa für
- MAN-Fahrzeuge
- Mercedes-Benz Aufbauherstellerportal Registrierung für Zugang erforderlich! Dort kann man ein Excel-Sheet ECE-R111_Kippgrenze_de.xls (mit Makros) downloaden und eine entsprechende Kippgrenzenberechnung (natürlich ausschließlich für ein MB-Einzelfahrzeug!) durchführen. Aus Summe der Einzelmassen und den Schwerpunktlagen für das (selektierte) Fahrzeug, Aufbau und Nutzlast ergibt sich die maximal zulässige Schwerpunkthöhe für die Kippbedingung nach ECE-R 111.
Weitere Beiträge zum Thema im VuF
- 1988 #3, 4 Verkehrsunfälle mit mehrgliedrigen Lastkraftwagen infolge Stabilitätsverminderung
- 2005 #3, 4 Verkehrsunfälle mit mehrgliedrigen Nutzfahrzeugen infolge Stabilitätsverminderung
Weitere Infos zu Thema
- 1971 Die Kippgrenze von Sattelkraftfahrzeugen, Dissertation von Isermann, H., TU Hannover
- 1978 TRRL Laboratory Report 788 Fahrversuche und Kippbrückenversuche älterer Fahrzeuge
- Schwerpunkthöhe