Die Stoßzahl bei Auffahrkollisionen

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2000, p. 275 (#10)

Die Stoßzahl beschreibt den teilelastischen Charakter einer Kollision und ist ein wesentlicher Parameter zur Bestimmung der biomechanischen Insassenbelastung. Die Analyse einer Vielzahl an Pkw-Auffahrkollisionen ergibt, dass die Elastizität einer Kollision mit zunehmender Geschwindigkeit abnimmt. Bis zu einer Relativgeschwindigkeit von etwa 25 km/h liegt bei den analysierten Versuchen keine Stoßzahl unter 0,10. Allerdings stehen hier keine Versuche mit geringer Überdeckung auf diesem Relativgeschwindigkeitsniveau zur Verfügung. Die tiefergehende Auswertung von insgesamt 38 Pkw-Auffahrkollisionen mit Relativgeschwindigkeiten zwischen 7,8 und 32,4 km/h zeigt, dass im wesentlichen der Überdeckungsgrad der unfallbeteiligten Fahrzeuge auf diesem Relativgeschwindigkeitsniveau auf die Stoßzahl Einfluss nimmt. Bei einer Überdeckung unter 50 % liegen die Stoßzahlen etwa zwischen 0,00 bis 0,15, bei einem Überdeckungsgrad von etwa 50 % zwischen 0,10 und 0,20 und bei einer Überdeckung von über 50 % zwischen 0,15 und 0,30. Ferner sind die Stoßzahlen bei »Stoßfänger-Stoßfänger«-Kollisionen im Mittel höher als bei »Unterfahr«-Kollisionen. Die minimale Stoßzahl bei »Stoßfänger-Stoßfänger«-Kollisionen liegt bei 0,10 (bis auf zwei Anstöße nur Versuche mit 100 % Überdeckung). Beide Kollisionstypen erreichen dagegen maximale Stoßzahlen von etwa 0,30. Zur Untersuchung dieser Problematik wären weitere Versuche insbesondere mit geringer Überdeckung sinnvoll.
Die aufgeführten Stoßzahlen bilden eine Arbeitsgrundlage für die Beurteilung des teilelastischen Charakters einer Pkw-Auffahrkollision. Dabei sind diese Ergebnisse lediglich als Orientierungshilfe anzusehen, da bei besonderen Fahrzeugen und Anstoßkonfigurationen auch hiervon abweichende Stoßzahlen vorstellbar sind.


The coefficient of restitution quantifies the restitution that occurs in the final phase of a vehicle-to-vehicle collision. Therefore this coefficient is an essential parameter to determine the biomechanical stress of an occupant. The higher the velocity, the lower is the elasticity of the impact. Up to a closing velocity of 20 km/h no coefficient of restitution of the analysed crash tests is below 0.10. Though there are here no tests with a low degree of overlap at this speed level. The analysis of totally 38 rear impact car crash tests with a closing velocity between 7.8 and 32.4 km/h shows, that the coefficient of restitution is mainly influenced by the degree of overlap of the participating vehicles. Dependent on this parameter the coefficient of restitution can be determined with a degree of overlap under 50 % between 0.00 and 0.15, with a degree of overlap of 50 % from 0.10 to 0.20 and with a degree of overlap more than 50 % between 0.15 and 0.30. The coefficients of bumper-to-bumper collisions are on the average higher than those of underriding collisions. The lowest coefficient of bumper-to-bumper collisions is 0.10 (all crashs except of two with a degree of overlap of 100 %). The highest coefficient of all kinds of impacts is 0.3. In this case further crash tests especially with a low degree of overlap would be useful.
The coefficients of restitution shown in this essay are fundamental for the reconstruction of rear end car collisions. Nevertheless they can be only a guidance because under certain circumstances the coefficient of restitution may differ from these values.

Zitat

Kalthoff, W.; Becke, M.: Die Stoßzahl bei Auffahrkollisionen – Ein wesentlicher Parameter zur Bestimmung der HWS-Belastung. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 38 (2000), pp. 275 – 282 (# 10)

Inhaltsangabe

Anhand etlicher im Hinblick auf die HWS-Problematik durchgeführter Kollisionsversuche wird der Auswirkung von

  • effektiver Kollisionsgeschwindigkeit (Differenzgeschwindigkeit)
  • Überdeckung
  • Karosserietyp

auf den Stoßfaktor nachgegangen.

Obwohl mancher Zusammenhang sachlich einleuchtet, ist die Frage berechtigt, ob der konkret zur Bearbeitung vorliegende Individualfall durch die hier vorgenommene Regressionsanalyse ausreichend genau beschrieben wird. In jeden Fall jedoch eine gute Quelle für Versuche, so bspw. nachfolgender Versuch mit geringer Überdeckung:

00-11.gif

In einer Tabelle wird die Stoßzahl beim Überdeckungsgrad bei Heckkollisionen zwischen 7,8 - 32,4 km/h (also dem Bereich, der üblicherweise bei leichten Heckkollisionen bzw. bei HWS-Fällen vorliegt) wie folgt eingeordnet:


Empfohlene Stoßfaktoren k bei Überdeckungsgrad Ü [%] bei Heckkollisionen zwischen 7,8 - 32,4 km/h:

Überdeckungsgrad Ü Stoßzahl k
< 50% 0,00 - 0,15
ca. 50% 0,10 - 0,20
> 50% 0,15 - 0,30


Die obige Tabelle wird in einem Vortrag auf der EVU-Tagung 2008 in Nizza ergänzt, verfeinert und aktualisiert.

Die folgenden Bilder zeigen in etwa die Versuchsergebnisse im Vergleich. Hierzu wurden die Diagramme etwas vereinfacht (Meßwerte z.T. als Bereich!!!) dargestellt, da die Diagramme z.T. im VuF eher "Briefmarkengröße" aufweisen. Dabei ist hier die delta-v als Relativ- oder Differenzgeschwindigkeit (vrel) zu verstehen und nicht zu verwechseln mit der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (Δv) oder der Trennungsgeschwindigkeit (dvBn')!

18 Versuche zu Auffahrkollisionen u.a. mit Angabe der Stoßzahl (k) können auch hier nachgesehen werden. Die folgende Grafik zeigt den Versuchsvergleich zwischen den o.g. Versuchen von S+B und den Versuchen des AZT aus 2002-2004:



Die Auswertung der AGU-Crashversuche (Stand 06/2007) mit (hauptsächlichem) Kollisionsgeschwindigkeitsbereich von etwa 5 – 30 km/h auf das Heck eines stehendes Fahrzeugs führt zu folgenden Ergebnissen:



Die unterschiedliche Angabe der Anzahl n ist darauf zurückzuführen, dass nicht bei allen Versuchen alle Werte aufgeführt wurden.

Kommentar

Auf Seite 278 findet sich die These:

»Die im Rahmen eigener Barrierenanprallversuche ermittelten Stoßzahlen (0,00 bis 0,71) sind neben den von HOWARD et al. [2] angegebenen Werten in Bild 9 eingetragen. Verglichen mit den bei Pkw-Pkw-Kollisionen ermittelten Stoßzahlen (Bild 8) sind diese deutlich höher. Dies liegt in der extremen Struktursteifigkeit einer Barriere begründet, wodurch von diesem Kollisionspartner keinerlei Energie in Deformation umgewandelt wird und somit ein größerer Teil der kinetischen Eingangsenergie als bei einer Pkw-Pkw-Kollision als kinetische Ausgangsenergie erhalten bleibt.«

Diese Begründung kann ich nicht nachvollziehen: Die Stoßzahl ist das Verhältnis der elastisch zurückgewonnenen Energie zur plastisch »vernichteten«:

[math]\displaystyle{ \varepsilon = \sqrt {E_{res}/E_{comp}} }[/math]

Lassen wir nun einen VW Golf einmal mit 10 km/h gegen eine Betonwand fahren und einmal gegen die Front eines typgleichen Pkw: Beim einfachen Federmodell (mit härterer Restitutionsfeder) ergibt sich

[math]\displaystyle{ \varepsilon = \sqrt {c_{comp}/c_{res}} }[/math]

Die Federhärten [math]\displaystyle{ c_{comp} }[/math] und [math]\displaystyle{ c_{res} }[/math] reduzieren sich durch die Reihenschaltung im Falle der Gegenverkehrskollision jeweils auf die Hälfte, und durch die Verhältnisbildung kürzt sich das weg. Ergo macht es keinen Unterschied.

In Die Stoßzahl bei Heckauffahrkollisionen – Neue Erkenntnisse relativiert Kalthoff dann auch die obige (Schein-)Erkenntnis unter Bezug auf seine nunmehr veraltete Veröffentlichung ([1]):

»Dieses Beispiel zeigt, dass bei sehr geringen Relativgeschwindigkeiten extrem hohe Stoßzahlen auftreten können. Derartige Stoßfaktoren wurden bisher nur bei Barrierenanpralltests festgestellt (vgl. [1]).«

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