Berücksichtigung der Reifenkräfte bei einer Serienkollision

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1999, pp. 152 – 156 (#6)

In letzter Zeit kommt man zunehmend zu der Überzeugung, dass bei Fahrzeugkollisionen im unteren Geschwindigkeitsbereich zusätzlich zu den Stoßkräften die Reibungskräfte der Fahrzeugreifen zu berücksichtigen sind. Physikalisch betrachtet bedeutet dies, dass die beiden Fahrzeuge nicht mehr ein geschlossenes System darstellen, sondern dass zusätzlich zu den inneren Kräften (Stoßkräfte) des Systems äußere Kräfte (Reifenkräfte) auf das System einwirken. Bislang gibt es zwei Ansätze, dieses Problem zu beschreiben. Im ersten Ansatz werden die Reifenkräfte durch entsprechende Parameter im Impuls- und Energie-Erhaltungssatz berücksichtigt, im zweiten Ansatz wird davon ausgegangen, dass sich die Reifenkräfte wie eine Vergrößerung der Fahrzeugmasse auswirken. Im Beitrag wird eine weitere Möglichkeit aufgezeigt, nämlich die Reifenkräfte durch direkte Lösung der Bewegungsgleichung zu berücksichtigen, wobei als Näherung lediglich die Verformungskennlinien der Fahrzeuge in Ansatz kommen.


Recently in the field of accident reconstruction low speed collisions get special attention. For those collisions one has to take into account forces from tyres as well as the customary impact forces. Our work present a new approach. The article contains the equations of motion and their exact/analytical solutions lead to the trajectories. Both, speeds as well as accelerations can be calculated as functions of time. Within the assume model a formal impact-time can be calculated as well.

Zitat

Pfeufer, H.; Rosenow, B.: Berücksichtigung der Reifenkräfte bei einer Serienkollision. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 37 (1999), pp. 152 – 156 (Heft 6).

Inhaltsangabe

Bei der klassischen Kollisionsanalyse berücksichtigt man üblicherweise nur diejenigen Kräfte, die die Fahrzeuge aufeinander ausüben. Äußere Kräfte, insbesondere die Reifenkräfte, werden vernachlässigt. In der Regel ist diese Vorgehensweise auch gerechtfertigt, da die Kollisionskräfte deutlich größer sind als diejenigen, die von den Reifen überhaupt übertragen werden können. Von Bedeutung können sie jedoch sein, wenn beide auf gleichem Niveau liegen. Es gibt nun verschiedene Ansätze, um auch die Reifenkräfte in der Kollision zu berücksichtigen.

In diesem Artikel wurden die Bewegungsgleichungen unter Ansatz einer linearen Deformationskennlinie aufgestellt, die zu einem gekoppelten Differentialgleichungssystem führen. Diese wurde gelöst, indem die entstehende Matrix diagonalisiert wurde. Dies führte zu zwei entkoppelten Differentialgleichungen, die beide analytisch gelöst werden konnten.

Kommentar 1

Das Thema "Reifenkräfte" wird meist stiefmütterlich behandelt, sodass der Ansatz der Autoren verdienstvoll ist, die Reifenkräfte in einem einfachen analytischen Modell für die eindimensionale Kollision (Feder-Masse-System ohne Dämpfung) einmal theoretisch sauber aufzubereiten. Die gewählte Lösungsmethode - das Diagonalisieren der Systemmatrix - ist allerdings unnötig kompliziert, denn die Relativkoordinate

[math]\displaystyle{ y = x_1 - x_2 }[/math]

hätte es ebenso gut getan. Mit ihr ergibt sich nach deutlich kürzerer Rechnung

[math]\displaystyle{ y(t) = \frac{\Delta v}{\omega}\sin(\omega t)+\frac{\Delta a}{\omega^2}(1-\cos(\omega t)) }[/math]

als Lösung für die Kompressionsphase. Die Schwerpunktsbewegung des Gesamtsystems lässt sich über dessen Verzögerung

[math]\displaystyle{ a_s = \frac{m_1 a_1 + m_2 a_2}{m_1 + m_2} }[/math]

leicht integrieren und dann etwa die Einzelgeschwindigkeiten über

[math]\displaystyle{ v_i = v_s + \frac{m_j}{m_i + m_j} \Delta v }[/math]

ermitteln.

Die Autoren beschränken sich darauf, die Bewegungsgleichungen analytisch zu lösen; ein konkretes Rekonstruktionsverfahren (ggf. die Modifikation eines bestehenden Verfahrens) wird nicht abgeleitet. Insofern bleibt der Eindruck des l'art pour l'art zurück, man fragt sich: So what? Die numerische Simulation des Zusammenstoßes unter Einwirkung äußerer Kräfte ist heutzutage problemlos möglich, sodass es der analytischen Lösung nur dann bedürfte, wenn daraus weitergehende Schlussfolgerungen möglich wären. Genau dort aber hört der Artikel auf.

Sehen wir es positiv: Die Autoren zeigen zumindest, dass die analytische Lösung existiert und wie sie ausschaut (denn die Ergebnisse sind korrekt).

--Whugemann 12:03, 16. Apr 2006 (CEST)

Kommentar 2

Die Anmerkungen im vorherigen Kommentar sind durchaus berechtigt. Die Berechnungen sind in der Tat einfacher, wenn man eine Relativkoordinate einführt. Das Problem bei der Sache ist, die richtige Relativkoordinate zu finden. Dieser Schritt ist in den - zugegeben - vergleichsweise komplizierten Berechnungen enthalten und in der Koordinatentransformation, die zur Diagonalisierung der Matrix geführt hat, versteckt.
Es ist das gleiche Problem wie beim Lösen einer Differentialgleichung. Mit dem richtigen Ansatz ist es kein Problem, nur woher bekommt man den?

--Benutzer:Hans Pfeufer 24.05.2006

Kommentar 3

Die Diagonalisierung erfolgt über

[math]\displaystyle{ \vec y = \boldsymbol P^{-1} \cdot \vec x }[/math]

mit

[math]\displaystyle{ \boldsymbol P^{-1} = \frac 1 {m_1 + m_2} \pmatrix{m_1 & m_2\\-m_1& m_1} }[/math]

mithin

[math]\displaystyle{ y_1 = \frac {m_1 x_1 + m_2 x_2}{m_1+m_2}\\ y_2 = \frac {m_1}{m_1+m_2}(x_2 - x_1) }[/math]

also

[math]\displaystyle{ y_1 }[/math] = Schwerpunktkoordinate

[math]\displaystyle{ y_2 }[/math] = Differenzweg

Auf diese dem Problem angemessenen Koordinaten hätte man auch über physikalische Überlegungen gelangen können. Zumindest hätte man diese physikalisch anschauliche Interpretation der Diagonaltransformation im Aufsatz erläutern können. Dass dies nicht geschieht, illustriert beispielhaft das Manko dieses Aufsatzes: Die physikalische Interpretation kommt schlicht zu kurz.

whugemann (Diskussion) 12:01, 25. Jul. 2020 (CEST)

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