Experimentelle Ermittlung zeitgemäßer mittlerer Bremsvollverzögerungen von Personenkraftwagen

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2008, p. 46 (#2)

Bremsen moderne Pkw mit neuer Bremsentechnik besser? Bremsversuche mit neueren Pkw auf öffentlichen Straßen, die vom Ingenieurbüro Plöchinger im Rahmen einer Diplomarbeit durchgeführt wurden, sollten klären, ob bisher in Rekonstruktionen angewandte Grenzbereiche für Bremsverzögerungen neu definiert werden müssen. Auch Einflüsse von Spurrillen, ABS und unterschiedlichen Reifenarten wurden berücksichtigt.


Experimental determination of the mean full braking deceleration of passenger cars
Are the brakes of modern passenger cars with new braking technology better? Braking tests with latest-model cars were performed on public roads by the Ingenieurbüro Plöchinger as part of a diploma thesis with the aim of determining whether the limit ranges for braking deceleration that have previously been used in accident reconstructions need to be re-defined. The influences of lane grooves, ABS and different types of tyres were also considered.

Zitat

Knödlseder, C.; Plöchinger, F.: Experimentelle Ermittlung zeitgemäßer mittlerer Bremsvollverzögerungen von Personenkraftwagen. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 46 (2008), pp. 46 – 55 (#2).

Inhaltsangabe

Die Autoren des Artikels weisen darauf hin, dass letzte veröffentlichte Messungen zur Pkw-Bremsverzögerung älter als 10 Jahre sind und überwiegend auf speziellen Trainingsplätzen, sowie Rennstrecken festgestellt wurden.

Die Untersuchung (im Rahmen einer Diplomarbeit) sollte möglichst unter realen Bedingungen erfolgen und dabei Bremsversuche aus 50 und 80 km/h mit modernen Pkw auf öffentlichen Straßen durchgeführt werden. Als Messgerät wurde ein XL-Meter Pro Alpha benutzt. Der Nickwinkel beim Bremsen wurde mittels Videoanalyse zu ca. 2 – 3° (Audi A4 Avant und VW Lupo) bestimmt und der daraus resultierende Fehler mit rd. 0,34 – 0,51 m/s² angegeben. Auffallend auf den Fotos war jedoch, dass der Nickwinkel auf Verbundpflaster (offenbar auf einem Parkplatz) und nicht auf der Meßstrecke der Versuche ermittelt worden war. Zumindest das leere Fahrzeug schien dabei unbesetzt zu sein. Ob sich (noch gravierendere) Unterschiede ergeben hätten, war dem Beitrag genauso wenig zu entnehmen wie die Meßtoleranz des verwendeten (im übrigen ungeeichten) Meßgeräts und die exakte statische Auswertung hinsichtlich der Abweichungen. In diesem Zusammenhang sicherlich auch interessant ist die Aussage hier, dass Nickwinkel bei etwa bei 1° – 2° lägen, wobei die 2° für beladene und gebremste Transporter angeführt sind.

Die Messungen berücksichtigten auch den den Einfluss von Spurrillen und Nässe. Das SCRIM-Verfahren zur Messung der Fahrbahngriffigkeit wurde zusammen mit der ZTV Asphalt-StB 01 vorgestellt. Bei den Fahrzeugen wurde zum Vergleich auch ein BMW E36 Baujahr 1993 gegen 8 aktuelle Fahrzeugmodelle gestellt und die Tests in einem Temperaturbereich von 15 – 19°C (Boden/Lufttemperatur?) gefahren.

Die Tests in Spurrillen wurden nur mit 2 aktuellen Modellen gefahren. Hierbei fiel auf, dass die Bremsverzögerung nachlässt. Allerdings war bei steigender Bremsausgangsgeschwindigkeit eine Reduzierung des negativen Einflusses der Fahrbahnabnutzung festzustellen. Insgesamt wurden augenscheinlich jeweils 3 Versuche pro Fahrzeug und Straßenzustand gefahren.

Die Bremsversuche ohne ABS zeigten, dass die erreichten Verzögerungen deutlich unter denen mit ABS lagen. Nennenswerte Unterschiede bei älteren BMW gegenüber den aktuellen Fahrzeugmodellen waren bei Trockenbremsungen nicht festzustellen. Die auf einigen Fahrzeugen montierten Winterreifen waren bei den Nässeversuchen hinsichtlich der Bremsverzögerung signifikant schlechter als die mit Sommerreifen. Die Messungen haben nach Auffassung der Autoren gezeigt, dass zumindest bei Trockenheit Verzögerungen von 9,5 – 10 m/s² erreicht wurden; allerdings waren Fahrzeuge (z.B. Opel Corsa Bj. 1998) dabei, die deutlich geringere und um die Messfehlerkorrektur weiter reduzierte Verzögerungen aufwiesen.

Dies veranlasste die Autoren zur weiteren Betrachtung und der Erkenntnis, dass die oftmals in der Rekonstruktion herangezogene Verzögerung von mindestens 7,5 m/s² auf trockener Fahrbahn nicht haltbar sei. Der Einfluss von Beladung, Bereifung, technischem Zustand und der Ausrüstung mit ABS führt im Einzelfall zur weiteren Reduzierung des tatsächlichen Verzögerungswertes.

Am Beispiel des Opel Corsa wurden die niedrigsten Bremswerte von 8,0 / 7,9 / 7,7 m/s² durch das Nicken beim Bremsen korrigiert auf 7,49 / 7,39 / 7,19 m/s². Damit lag wohl entsprechend der obigen Ausführung auch beim Corsa ein Nickwinkel von rd. 3° (entsprechend -0,51 m/s²) vor!? Um die im Strafverfahren übliche Mindestvollverzögerung von 7,5 m/s² quasi standardmäßig und stichhaltig zu widerlegen, wäre wohl eine etwas wissenschaftlichere Arbeit erforderlich gewesen. Es bestreitet wohl niemand ernsthaft, dass es Pkw mit Sommer-/Winterreifen, schlechten Bremsen und Beladungszuständen gibt, die die 7,5 m/s² nicht erreichen. Ob diese Arbeit diesen Verzögerungswert allgemeingültig zu widerlegen vermag, darf bezweifelt werden. Es scheint doch eher eine Bestätigung des bis dato angesetzten Werts zu sein, wenn das sachverständige Ermessen bzw. der oft genannte Praxisfaktor (vulgo: der Daumen) weiterhin Berücksichtigung im Gutachten des Sachverständigen finden. Dass die Ausgangsgeschwindigkeit bei allen Versuchen sicher nicht bei exakt (sondern nur eben bei ca.) 50 bzw. 80 km/h gelegen haben wird und wie diese bestimmt wurde, wurde im Beitrag nicht erwähnt.

Umgekehrt seien Fahrzeuge mit guter Ausrüstung und Technik, neuwertigen Reifen und schnell, sowie gut reagierendem Fahrer bei einem Rechenwert von 7,5 m/s² deutlich zu niedrig bewertet worden. Dass Pkw auch eine höhere Verzögerung als 7,5 m/s² erreichen konnten und können, ist und bleibt unbestritten und wird wohl in Straf- und Zivilverfahren auch so im Kollegenkreis der Sachverständigen angewendet.

Zusammenfassend lässt sich nach Studium des Artikels sagen, dass die Frage am Anfang des Beitrags nach einer neuen Definition der Grenzbereiche der bei der Unfallrekonstruktion angesetzten Bremsverzögerung sicher mit nein beantwortet werden darf...Für eine derartige Aufgabe sind "ein paar Bremsversuche" in der vorgestellten Form sicher nicht geeignet.

Eine Frage bleibt noch für den Schluss: Warum werden so oft die Diplomanden nicht genannt, die doch wohl den größten Teil einer derartigen Arbeit erledigen?

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  • 2001 Der Einfluß der Fahrbahnoberflächenstruktur auf das Kraftschlußverhalten von Pkw-Reifen, ATZ 2001, Heft 11, S. 950 ff
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  • 1983 Friction Applications in Accident Reconstruction. SAE:830612
  • 1990 Tire-Roadway Friction Coefficients on Concrete and Asphalt Surfaces Applicable for Accident Reconstruction. SAE 900103
  • 1996 Tire-Road Friction in Winter Conditions for Accident Reconstruction. SAE:960657
  • 1998 Comparison of Tire Friction Test Methodologies Used in Accident Reconstruction. SAE:980367

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