Einfluss einer Motorrad-Schräglage auf polizeiliche Geschwindigkeitsmessungen mit Videonachfahrsystemen

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Zitat

Grohne, H.; Jäger, F.; Märtens, F.: Einfluss einer Motorrad-Schräglage auf polizeiliche Geschwindigkeitsmessungen mit Videonachfahrsystemen. PVT POLIZEI VERKEHR + TECHNIK 57 (2012), pp. 131 - 134 (#3) & 154 - 157 (#4)

Inhaltsangabe

Vor einigen Jahren wurde durch Messungen allgemein bekannt, dass sich bei Kurvenfahrten bei Motorrädern der Abrollradius der Reifen ändert und dass dies die am Tacho angezeigte Geschwindigkeit erhöht. Dieser Effekt wirkt bei Nachfahrten mit Videomotorrädern zum Nachteil des Betroffenen. In der Konsequenz wurde die Gebrauchsanleitung des Geräts geändert, sodass Nachfahrten unter Schräglage seit einiger Zeit untersagt sind.

Die PTB hat zwischenzeitlich zusammen mit dem Eichamt NRW eigene Messungen auf dem Verkehrsübungsplatz in Aldenhoven durchgeführt, über die hier berichtet wird. Es zeigt sich, dass die bei den Kreisfahrten messtechnisch ermittelten Fehler gut durch das z.B. von Cossalter angegebene mathematische Modell beschrieben werden können.

Am Ende des Aufsatzes werden Vorschläge unterbreitet, wie der durch Schrägfahrten verursachte Fehler messtechnisch zu kompensieren ist. Neben der Messung des Schräglagenwinkels (die bei BMW-Motorrädern seit einiger Zeit mittels Sensoren von Bosch möglich ist) schlagen die Autoren vor, den Unterschied in der Rotationsgeschwindigkeiten von Vorder- und Hinterrad (verursacht durch unterschiedliche Bereifung) zu nutzen, um den durch Schräglage verursachten Fehler zu kompensieren.

Nebenbei erfährt der Leser, dass ProViDa ausschließlich die Hinterradgeschwindigkeit auf dem CAN-Bus abgreift. (Das ist auch der Bauartzulassung zu entnehmen, die für jeden Wegsignalkonvertertyp [WSK1, WSK3, WSK5] vermerkt, von wo er seine Impulse bezieht.)

Der Lösungsvorschlag

Wie in Videonachfahrsysteme – Fehlmessung bei Schräglage!#Kommentar nachzulesen, hängt die Größe des Effekts vom Verhältnis Querschnittsradius [math]\displaystyle{ r }[/math] zur Abrollradius [math]\displaystyle{ R }[/math] ab: [math]\displaystyle{ \Delta R = (1 - \cos \alpha) \, r }[/math] Division durch [math]\displaystyle{ R }[/math] führt auf: [math]\displaystyle{ \frac {\Delta v} v = \frac {\Delta R} R = (1 - \cos \alpha) \, \frac r R }[/math] Der Effekt ist Vorder- und Hinterrad unterschiedlich groß, wegen des abweichenden Radienverhältnisses [math]\displaystyle{ r / R }[/math]. Gemeinsam ist beiden Formeln jedoch der Faktor [math]\displaystyle{ (1 -\cos \alpha) }[/math]. Die Autoren schlagen vor, beide Geschwindigkeiten zu messen und darüber den Einfluss der Schräglage herauszurechnen. Im Aufsatz findet sich dazu allerdings keine formale Herleitung; der Vorschlag wird nur als Zahlenbeispiel anhand der Diagramme durchgerechnet.

Wollen wir den Faktor [math]\displaystyle{ (1 -\cos \alpha) }[/math] eliminieren, so können wir z.B. die Geschwindigkeiten an Vorderrad (Index 1) und Hinterrad (Index 2) ins Verhältnis setzen: [math]\displaystyle{ \frac {\Delta v_1} {\Delta v_2} = \frac {r_1 R_2}{r_2 R_1} }[/math] Wie ersetzen [math]\displaystyle{ \Delta v_i = v_i - v }[/math] und gelangen darüber auf: [math]\displaystyle{ (v_1 - v) r_2 R_1 = (v_2 - v) r_1 R_2 }[/math] und nach kurzer Rechnung zu: [math]\displaystyle{ v = \frac {v_1 r_2 R_1 - v_2 r_1 R_2}{r_2 R_1 - r_1 R_2} }[/math] und der Schräglageneffekt ist kompensiert. In der Veröffentlichung werden folgende Werte genannt:

  • Vorderreifen [math]\displaystyle{ R_1 }[/math] = 299,9 mm, [math]\displaystyle{ r_1 }[/math] = 60 mm
  • Hinterreifen [math]\displaystyle{ R_2 }[/math] = 314,9 mm, [math]\displaystyle{ r_2 }[/math] = 90 mm

Damit ergibt sich: [math]\displaystyle{ \frac {r_2 R_1} {r_1 R_2} = 1.43 }[/math] und: [math]\displaystyle{ v = 3.358 \, v_1 - 2.358 \, v_2 }[/math] In der Veröffentlichung wird statt beider Absolutgeschwindigkeiten bei einem Rad nur die Abweichung vom am anderen Rad gemessenen Wert betrachtet, also z.B.: [math]\displaystyle{ \Delta v \equiv v_1 - v_2 }[/math] was dann: [math]\displaystyle{ v = v_2 + 3.358 \Delta v }[/math] ergibt und ausschaut, als würde man der bislang gemessenen Geschwindigkeit [math]\displaystyle{ v_2 }[/math] nur einen kleinen Korrekturfaktor hinzufügen; mathematisch sind beide Operationen jedoch selbstverständlich identisch.

Fehlerbetrachtung

Der Vorschlag funktioniert zwar mathematisch (bei exakten Werten für sämtliche Größen), muss aber in der Praxis versagen: Die Differenzenbildung zwischen fehlerbehafteten Größen führt im Extremfall zur Addition der Einzelfehler, wenn die Vorzeichen voneinander abweichen. Wenn wir exemplarisch annehmen, dass beide Geschwindigkeiten [math]\displaystyle{ v_1, v_2 }[/math] mit 0,5 % Fehler behaftet sind, so unterläge die daraus errechnete Fahrgeschwindigkeit [math]\displaystyle{ v }[/math] bereits einem Fehler von gut einem Prozent.

Messtechnisch wird vorliegend primär die Drehgeschwindigkeit [math]\displaystyle{ \omega }[/math] der Räder gemessen, sodass die eigentliche Rechenformel lautet: [math]\displaystyle{ v = \frac {\omega_2 r_1 R_2^2 - \omega_1 r_2 R_1^2}{r_1 R_2 - r_2 R_1} }[/math] Wir müssen hier vor allem zwei Fehlerquellen berücksichtigen:

  • Frequenzwandlung [math]\displaystyle{ f \rightarrow \omega }[/math]
  • Veränderung der Abrollradien [math]\displaystyle{ R_1, R_2 }[/math] durch Abnutzung der Reifen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der angetriebene Hinterreifen stärker abnutzt als der Vorderreifen, sodass die Wechselintervalle der beiden Reifen nicht identisch sind. Wenn wir an beiden Reifen von 6 mm Nutzprofiltiefe ausgehen, beträgt allein die Unsicherheit in den Abrollradien [math]\displaystyle{ R_1, R_2 }[/math] bereits 2 %, was einen maximalen Fehler von grob 4 % verursachen würde. (Die Feinheiten der Fehlerbetrachtung in diesem Fall überspringen wir an dieser Stelle.) Mindestvoraussetzung für die vorgeschlagene Kompensationsrechnung wäre also, dass die Profiltiefen bei Einsatzbeginn verlässlich ins System eingegeben würden.

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