Die allgemeine Kollisionsbedingung - Über die Fragwürdigkeit von Vermeidbarkeitsbetrachtungen
1982, pp. 9 – 10 (#1)
Die Problematik von Vermeidbarkeitsüberlegungen und der »Nachweis« von »Fehlreaktionen« wird am Beispiel des Kreuzungsunfalles kritisch diskutiert. Aus einer mathematisch quantitativ formulierten Kollisionsbedingung kann man ableiten, daß komplizierte wechselseitige Beziehungen nicht immer intuitiv beurteilbar sind, und daß insbesondere das »zusammenpassende« oder »nicht-zusammenpassende« Verhalten von potentiellen Unfallpartnern aus ein und derselben Reaktion einmal eine »falsche«, das anderemal eine »richtige« Reaktion werden läßt. Die Frage der Beurteilung einer »Fehlreaktion« ist daher mit großer Verantwortung zu prüfen. In vielen Fällen wird es keine Antwort geben können, weil frei wählbare Einflußgrößen nicht willkürlich festgesetzt werden dürfen.
Zitat
Wielke, B.: Die allgemeine Kollisionsbedingung - Über die Fragwürdigkeit von Vermeidbarkeitsbetrachtungen. Der Verkehrsunfall 20 (1982), pp. 9 – 10 (#1)
Inhaltsangabe
Im Artikel wird darauf hingewiesen, dass eine Vermeidbarkeitsbetrachtung z.B. bei Kreuzungskollisionen auf die Reaktion beider Unfallgegner abgestimmt werden muss. Derjenige, der die Vorfahrt hat, stellt ggf. sein Verhalten so ein, dass er bei konstanter Geschwindigkeit hinter dem Einfahrenden vorbei fährt. Es ist also für diesen Fall keine Reaktion des auf der Vorfahrtstraße befindlichen Verkehrsteilnehmers erforderlich. Für den Fall aber, dass der Einfahrende sich kurzfristig anders entschließt, nämlich nicht die Kreuzung zu überqueren und zu bremsen, wird plötzlich (und ggf. zu spät) für den anderen, auf der Vorfahrtstraße befindlichen Verkehrsteilnehmer ein Reaktionsanlass gesetzt. Aus dem "richtigen" Verhalten, nicht zu bremsen und hinter dem Einfahrenden vorbeifahren zu wollen kann plötzlich ein "falsches" Verhalten werden. Diesem Gesichtspunkt ist nach Auffassung des Autors bei der Vermeidbarkeitsbetrachtung besonderes Augenmerk zu richten. Es sei in vielen Fällen eben nicht die Unfallursache, dass sich die Unfallgegner übersehen hätten, sondern dass der eine Unfallbeteiligte vom anderen eine andere Reaktion erwartet hätte.
In die selbe Richtung geht der Beitrag »Angeborene Verhaltensweisen als Unfallursachen bei Ausweichmanövern von Pkw-Fahrern« aus dem selben Heft, der psychologische Hintergründe aufzeigt.
Kommentar
Anfang der 80er Jahre waren Vermeidbarkeitsbetrachtungen und Reaktionszeiten en vogue, und es meldeten sich allerlei Autoren zu Wort. Bei der im Titel erwähnten »allgemeinen Kollisionsbedingung« handelt es sich um die schlichte Bedingung, dass beide Fahrzeuge zur selben Zeit am selben Ort befinden müssen, sonst kommt es nicht zum Unfall. In einem geometrisch einfachen Beispiel werden dann die Bewegungsgleichungen der Beteiligten von der Kollision bis zur Sichtgrenze aufintegriert und schmücken den zweiseitigen Beitrag so mit ein paar komplexen Formeln.
Dass sich die Reaktionen beider Beteiligter konterkarieren können, sollte Unfallanalytikern spätestens seit dem Untergang der Andrea Doria bekannt sein. Allerdings dürfte bei einem Verkehrsunfall die Zeit für Umentscheidungen (noch dazu auf beiden Seiten) im Regelfall zu knapp sein. whugemann (Diskussion)
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